Skeptiker 99-4 Cover

Skeptiker 99-4

Wahrnehmungstäuschungen
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Skeptiker 99-4 - Inhaltsverzeichnis
Editorial: SinnestäuschungenRainer Rosenzweig
Thema - Das elfte Gebot: "Du sollst Dich nicht täuschen!"Rainer Wolf
Thema - Unbewusste WahrnehmungenHelmut Fink, Rudolf Pausenberger, Rainer Rosenzweig, Arno Weber
Thema - GedächtnistäuschungenWolfgang Hell
Thema - Das UFO-Phänomen von Greifswald: Ein deutscher KlassikerWerner Walter
Berichte - Die deutsche "Invasion" in New Hampshire von 1917: Ein Fall von KriegshysterieRobert E. Bartholomew
Berichte - "Psychologie und Skepsis": Ein Seminar an der Otto-Friedrichs-Universität BambergChristoph Bördlein
Berichte - Barnum-Effekt und Geschlecht: Sind Frauen leichtgläubiger?Christoph Bördlein
Berichte - Vom Himmel hochBernd Harder
Berichte - Die Psychologie der Séance: Vom Experiment zur InszenierungRichard Wiseman, Clive Jeffreys, Matthew Smith und Andy Nyman
Panorama
Buchkritik - Schneider, Reto U.: PlanetenjägerAndreas Dosche
Buchkritik - Bellmund, Klaus; Siniveer, Kaarel: Kulte, Führer, LichtgestaltenWolfang L. Gombocz
Buchkritik - Junker, Reinhard; Scherer, Siegfried: EvolutionMartin Mahner
Leserbriefe

Editorial: Sinnestäuschungen

„Der Schamane richtet die Wünschelrute auf den magischen Ort. Ein Blitz fährt in seine Glieder, und er sinkt in sich zusammen. Sinnestäuschung?“ So etwa beginnt ein Werbespot, in dem für esoterische Literatur, seltsame Geschichten oder Ähnliches geworben wird. Die Rhetorik bewirkt zweierlei: Sie stellt klar, dass man gerne bereit ist, auch mal andere Erklärungen als mystisch-esoterische in Erwägung zu ziehen („Sinnestäuschung?“). Gleichwohl erscheint diese Alternativerklärung in dem gebotenen Zusammenhang ziemlich platt und erkennbar absurd. So gibt man auf raffinierte Weise das Argument „Sinnestäuschung“ erst einmal dem Verdacht der Lächerlichkeit preis.

In der Tat: Einzelerfahrungen von vornherein als Sinnes- oder genauer Wahrnehmungstäuschungen abzutun oder gleich das Gesamtphänomen des Glaubens an paranormale Phänomene allein darauf zu reduzieren, wäre nicht nur undifferenziert, sondern schlicht falsch. Dennoch sind Wahrnehmungsphänomene ein wichtiger Aspekt, an dem sich diejenigen nicht vorbeimogeln können, die uns von der Echtheit einer außergewöhnlichen These überzeugen wollen.

Was hat es nun mit Wahrnehmungstäuschungen auf sich? Warum muss das Thema Wahrnehmung überhaupt beachtet werden? Oder umgekehrt: Kann man sich je sicher sein, keiner Täuschung zu unterliegen?

Wahrnehmung entsteht im Gehirn. Sie ist ein Prozess, umfangreicher und störanfälliger als man sich naiverweise vorstellt. Unser Gehirn bildet für uns die Welt nicht einfach ab, wie sie von den Sinnen vermittelt wird. Was wir bereits über die Welt wissen oder zu wissen meinen, was wir von ihr erwarten und was wir hoffen oder befürchten: Das sind unverzichtbare Parameter, die die Wahrnehmung bestimmen, ob wir wollen oder nicht. Nervenverbindungen führen nicht einfach wie Einbahnstraßen allein vom Sinnesorgan zum Gehirn. Es gibt eine Reihe von Rückkopplungsmechanismen: Kognitiv höhere Schichten des Gehirns sind mit niedrigeren Lagen vernetzt. Das Gehirn fragt unterwegs nach, was im Kopf schon an Bildern und Vorurteilen (oder besser: Voraus-Urteilen) vorhanden ist, und vermengt diese Information mit den einströmenden Sinnesdaten. Die erste Illusion, die wir also über Bord zu werfen haben, ist diejenige, wir könnten frei von Vorurteilen sein. Und hinterher gleich die nächste, nämlich dass wir unsere Sinne schon irgendwie im Griff haben. Denn nur allzu oft stimmt das Ergebnis des Wahrnehmungsprozesses nicht mit den vorliegenden Reizgegebenheiten überein oder ist sogar in sich selbst widersprüchlich. Immer dann spricht man von Wahrnehmungstäuschungen.

Sicher, im Alltagsleben können wir uns in der Regel auf unsere Sinne verlassen. Denn unser Wahrnehmungssystem hat im Verlauf der Stammesgeschichte viel gelernt, und daran haben wir uns gewöhnt. Auf subjektiven Erlebnissen, die die Sinne uns im Lauf des Lebens vermittelt haben, beruhen unsere tiefsten Überzeugungen, die Basis des eigenen Handelns und unser Weltbild. Worauf auch sonst! Doch Hand aufs Herz: Sind Sie bereit, Ihre tiefsten Überzeugungen, Ihre Lebensweisheiten oder Ihr Weltbild in Frage zu stellen und auf mögliche Täuschungen abzuklopfen? Und damit meine ich nicht irgendwelche Einzelerlebnisse, sondern gerade die emotional überzeugendsten Faszinationen, die subjektiv als überwältigend erlebten „Wahrheiten“. Die Wahrnehmungsforschung aber belehrt uns: Der Grad der subjektiven Überzeugung ist alles andere als entscheidend für den Wahrheitsgehalt oder die Objektivität unserer Erlebnisse.

Auch wenn Solipsisten, Fortianer und radikale Skeptizisten altgriechischen Vorbildes nun entgegnen würden, es gebe ja möglicherweise gar keine „Objektivität“, die man erlangen könne: Vielleicht kann man sich ja auf den Begriff der „verlässlichen Erkenntnis“ einigen. Erkenntnis also, die intersubjektiv registrierbar und kommunizierbar ist. Auf der Suche nach dieser verlässlichen Erkenntnis muss man dann zunächst untersuchen, auf welche Weise man Erkenntnis erlangt. Diese Suche führt also zwangsläufig dazu, Leistungen und Grenzen der menschlichen Wahrnehmung zu erforschen und die Ergebnisse in unser Weltbild zu integrieren. Aufgabe, Sinn und Zweck der wissenschaftlichen Methode ist es nun, die erkannten Unzulänglichkeiten aufzugreifen, zu kompensieren und valide Testverfahren zu entwickeln, die sich auch unabhängig von unseren Vorausurteilen bewähren.

Wie kommen nun Wahrnehmungstäuschungen bei der Untersuchung außergewöhnlicher Behauptungen ins Spiel? Nicht etwa als Mittel zum Wegerklären oder gar Plattmachen von subjektiven Erlebnissen, auch wenn sie oft genug dazu missbraucht werden. Sie sind vielmehr ein Fingerzeig, dessen wir uns bewusst sein müssen, wenn wir mit außergewöhnlichen Behauptungen zu tun haben. Sie mahnen uns, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Und außergewöhnliche Erlebnisse können frühestens dann als Beleg für außergewöhnliche Behauptungen in Betracht gezogen werden, wenn man die Möglichkeit der Wahrnehmungstäuschung ausschließen kann.

Ob den hartgesottenen Schamanen letztlich eine Sinnestäuschung oder ein anderes natürliches Ereignis zu Fall gebracht hat, ob sich die Geschichte überhaupt so zugetragen hat oder ob nicht doch etwas Übernatürliches vor sich ging, kann man erst dann entscheiden, wenn ausreichend viele Details über den genauen Hergang bekannt sind. Bis dahin bleibe ich auf dem Boden der bisher gewonnenen, zwar nicht endgültigen oder absoluten, aber dennoch nach heutigem Wissensstand bestmöglichen verlässlichen Erkenntnis.

Rainer Rosenzweig

Danke für Ihr Interesse!