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Heilungsversprechen (Vorwort)

Alternativmedizin zwischen Versuch und Irrtum
Skeptisches Jahrbuch III

Herausgegeben von Michael Shermer und Lee Traynor

Alibri, 2004, 2., durchgesehene Auflage, 254 Seiten, ISBN 3-932710-86-X. Counter page views.

Vorwort

Die Gesundheitspolitik ist in die Schlagzeilen geraten. Die Patienten sind nicht mehr bereit, ständig wachsende Versicherungsbeiträge, die ohnehin sehr hoch liegen, fraglos hinzunehmen und Ärztefunktionäre drohen unverhohlen damit, Behandlungen zu rationieren. In solchen Zeiten erschiene es logisch, dass die Krankenkassen unter Druck geraten, unnötige oder ineffektive Maßnahmen aus ihren Leistungskatalogen herauszunehmen. Ein Blick in die Ausgabe Nr. 3 von TK aktuell aber zeigt, dass mindestens eine Krankenkasse eine andere Strategie anwendet:1 sie versucht, neue Kunden anzulocken und so ihre Kasse zu füllen, indem sie damit wirbt, dass die Kosten für so genannte „sanfte“ oder „natürliche„ Behandlungen übernommen werden. Falls beim Lesen dieser Liste der angebotenen Therapien nichts auffällt, dann vielleicht doch beim letzten Eintrag, denn dieser lautet „Aderlass„.

Auf der Liste der Techniker Krankenkasse befinden sich auch einige Methoden, die in diesem Band näher untersucht werden. Selbstverständlich nehmen wir uns alle diese Methoden einzeln vor und lenken den Blick auf ihre Besonderheiten: die anthroposophische Medizin ist nicht allein schon deswegen fragwürdig, weil sie auf einer Liste zusammen mit Aderlass steht, Sippenhaftung sozusagen. Aber wenn Aderlass in eine Liste anerkannter Methoden aufgenommen wird, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Aufnahme der Heilverfahren erfolgte - und ob das eine oder andere nicht genauso fragwürdig ist. Denn der Aderlass, darüber sollte Einigkeit herrschen, ist eine barbarische Behandlungsmethode. Er ist weder sanft noch natürlich und eigentlich auch nicht traditionell, auch wenn er Jahrhunderte lang angewendet wurde, bis effektivere Methoden ihn ablösten. Sollte behauptet werden, der Aderlass bekämpfe die Ursache einer Krankheit, müssten hierfür passende Beweise angeführt werden. In der Tat starben viele Patienten an den Komplikationen, die durch den Aderlass verursacht wurden; sie starben, weil ihre Ärzte, indem sie eine unwirksame Behandlung anwandten, dachten, dass ihre Patienten noch häufiger behandelt - sprich: zur Ader gelassen - werden müssten, was zur buchstäblichen Verblutung führte. Der Aderlass ist nicht mit einer Blutspende zu verwechseln (wie man gelegentlich anlässlich eines Appells zu solcher in der Zeitung lesen kann). Auch in einer hygienischen Umgebung bei bester Kontrolle, wo die Gefahren von Infektionen und Anämie verringert werden können, wäre der Aderlass nicht mehr als ein Placebo. Es sei denn, die TK hätte sich auf die Seite von Greenpeace geschlagen („Gib dem Blutegel eine Chance!“).2

Ein weiteres Schlagwort, das zwar nicht im Zusammenhang mit dem Aderlass fällt, ist „holistisch“ oder „ganzheitlich“. In diesem Band werden wir in erster Linie versuchen, die Behauptungen von einzelnen Heilern sowie von alternativen Heilschulen kritisch zu durchleuchten, indem wir Fragen stellen wie: Beeinflusst der Heiler den Verlauf der Krankheit positiv? Oder: Funktioniert Homöopathie? Das sind Fragen über die Wirksamkeit einer Methode. Aber oft behaupten die Fürsprecher alternativer Methoden nicht, dass diese unmittelbar wirksam sind, sondern vielmehr dass sie sanft, natürlich, traditionell oder ganzheitlich seien. Das wirft zwei Fragen auf. Erstens, welche Beziehung gibt es zwischen diesen Kategorien und medizinischer Wirksamkeit? Und zweitens, sind sie an sich vorteilhaft? Wenn zwei Methoden gleich wirksam wären, bietet dann die sanftere, die natürlichere, die traditionellere oder die ganzheitliche Methode zusätzliche Vorteile?

Sanft

Keiner bestreitet, dass wir alle es vorziehen würden, eine angenehm schmeckende Pille gegen unsere Krankheit einzunehmen, die keine unerwünschten Nebenwirkungen hätte. Es kann nicht behauptet werden, dass bestehende Nebenwirkungen generell heruntergespielt oder verschwiegen werden. Einige medizinische Verfahren sind an sich schmerzhaft, unangenehm oder mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Unser Titelbild zeigt einen Steinschneider beim Versuch, einen Stein, der angeblich Verrücktheit verursacht, aus dem Gehirn eines Patienten herauszuschneiden. Vielleicht hatte die Operation eine eher abschreckende Wirkung. Die Absicht, ursächlich zu behandeln, kann Bestandteil einer wirksamen Medizin sein. Den Steinschneider, der vermutliche eher aufs Geschäft oder Ansehen aus war, kann sie allein nicht retten und er wird zu Recht als Quacksalber betrachtet.

Während wir mit einer gewissen Berechtigung hoffen können, dass wir von mitfühlenden Menschen behandelt werden und dass sich Andere die Mühe geben werden, immer weniger schmerzhafte Behandlungen zu entwickeln, scheint Unangenehmes fast unvermeidbar. Und auf die volkstümliche Vorstellung, dass eine wirksame Methode schmerzen muss, wollen wir gar nicht eingehen. Gelegentlich wird argumentiert, dass hinter sanften Behandlungsmethoden tatsächlich unwirksame Methoden stecken, doch dies muss nicht immer stimmen. Umgekehrt gilt, dass manche ineffektiven Methoden alles andere als sanft sind. Kurzum, ob man etwas als „sanft“ einstuft oder nicht, sagt nichts über die Wirksamkeit aus.

Natürlich

Stephen Basser wird dem Missbrauch des Etiketts „Natur“ auf den Grund gehen. Hierbei geht es um die Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Natur und welche Rolle diese Beziehung in Sachen Gesundheit / Krankheit spielt.

Es ist eine verbreitete Vorstellung, dass die Menschen seltener erkranken würden, wenn sie nur natürlicher lebten, und dass Heilung in Zusammenarbeit mit Mutter Natur wie von selbst erfolge. Wie Michael Shermer bereits dargestellt hat,3 ist eine „Rückkehr zur Natur“ ein kaum erfüllbarer Mythos - letztendlich, weil heute zu viele Menschen die Erde bevölkern, als dass sie wieder als Jäger-und-Sammler leben könnten. Auch wenn man ohne viel Aufhebens die Erde von 95 % ihres „Übergewichts“ an Menschen „befreien“ könnte (wie es in einigen esoterischen Untergangsszenarien durchgespielt wird), hätte das zur Folge, dass viele Schlüsseltechnologien verloren gehen würden. Als Beispiel in diesem Zusammenhang: um Medikamente zu produzieren oder medizinische Behandlungen auf heutigem Niveau durchzuführen, muss eine große Anzahl von Menschen sehr eng zusammenleben und davon befreit werden, für ihre Grundbedürfnisse selbst zu sorgen. Moderne Wissenschaft liefert uns Erkenntnisse, die denen von Jägern-und-Sammlern überlegen sind (auch wenn sich manch ein Esoteriker gern auf das „verlorene“ Wissen alter und antiker Kulturen beruft). Und hier geht es um Grundsätzliches. Es gibt auf der Erde (fast) genug, um ihre 6 Milliarden menschlichen Bewohner zu ernähren - sofern Nahrungsmittel durch eine fabrikmäßige Landwirtschaft hergestellt werden, die ihre Grundlagenstoffe von der petrochemischen Industrie bezieht und ihre Produkte mittels „Märkte“ mit minimalen Reibungsverlusten verteilt. Wenn wir zurückkehren würden zu einem Leben als Jäger-und-Sammler, stünde uns ein viel schmaleres Segment der Ressourcen der Welt zur Verfügung, mit der Folge, dass auch Nahrung knapp werden würde. Natürlich führt Nahrungsknappheit zur Ausrottung der so genannten Zivilisationskrankheiten, allen voran Krebs, weil weniger Menschen das Alter erreichen würden, in dem die Krankheit gehäuft auftritt.

Aber auch wenn wir zu einer ursprünglichen Lebensweise zurückkehren könnten, würden wir einen zentralen Punkt übersehen. Während sich der Mensch auf den Weg zur Zivilisation begab, haben sich die Menschen geändert und ihre eigene „Natur“ geschaffen. Es gibt viele Krankheiten, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, an die wir uns einigermaßen angepasst haben, z. B. die Pocken. Ursprünglich eine Krankheit von Kamelen übersprang sie die Artenbarriere und befiel den Menschen. Ein plausibles Szenario ist, dass dies irgendwo im Mittleren Osten in den Jahrhunderten v.u.Z. geschehen ist, als Menschen und Kamele eng zusammenlebten. Die Pocken trafen aber nicht alle Menschen gleich. Aufgrund der genetischen Unterschiede hatten einige bessere Überlebenschancen, und gaben diesen Vorteil an ihre Nachkommen weiter. So kam es, dass diese Krankheit eine solch verheerende Wirkung entfalten konnte, als sie unbeabsichtigt in die Neue Welt eingeschleppt wurde, wo sie bis dahin nicht aufgetreten war.

Kurz zusammengefasst: Krankheiten ändern die Menschheit - zur „Natur“ zurückzukehren ist ungefähr so wahrscheinlich wie die Zeit zurückzustellen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt waren wir an das Leben als Jäger-und-Sammler angepasst, doch diese Zeit ist vorbei; nun sind wir daran angepasst, in dicht besiedelten Städten zu wohnen. Zeitlich rückwärts gewandte Lösungsvorschläge moderner Probleme zielen daher ins Leere.

Verwandt mit der Idee, die Menschen müssten zur Natur zurückkehren, ist die Vorstellung, dass die Natur etwas gegen unsere Weh-Wehchen parat hält. Warum sollte sie eigentlich? Sicher gibt es viele natürliche Stoffe, die in der Pharmazie Anwendung finden. Das überrascht nicht, da sich auch andere Organismen gegen Parasiten und Infektionen wehren mussten und wirkungsvolle chemische Verteidigungsmechanismen gefunden haben. Aber aufgrund der einzigartigen Natur menschlicher Evolution könnten wir eines Tages einer Krankheit gegenüberstehen, gegen die kein Kraut gewachsen ist. (Aids könnte hier gut als Beispiel dienen.) Eine Alternative - die endgültige „natürliche“ Lösung - wäre, der Natur freien Lauf zu lassen. Früher oder später nämlich würden (wenn überhaupt jemand) nur diejenigen überleben, die Abwehrkräfte gegen die Krankheit entwickeln. Wir kennen keinen Befürworter der natürlichen Medizin, der prinzipientreu eine solche zynische Endlösung befürworten würde.

Ist die Vorstellung, eine Krankheit zu behandeln, überhaupt „natürlich“? Jede Intervention - sogar die Entscheidung nicht zu intervenieren - ist menschlich, und der Rückgriff auf die „Natur“ ist letztendlich überflüssig.

Traditionell

Ganz oben auf den Listen von „alternativen“ Therapien stehen solche, die von sich behaupten, traditionell zu sein. Ist Tradition ein Hinweis auf Wirksamkeit?

Unbestritten ist, dass viele traditionelle Methoden wirksam sind. Die Behandlung von Schmerzen und Fieber mit dem Aufguss der Weidenrinde ist ein gutes Beispiel. Glücklicherweise für die Weide schmeckt dieser Aufguss sehr bitter und daher würde normalerweise niemand einen Tee oder Extrakt daraus herstellen und einnehmen wollen. Nun lässt sich der Wirkstoff des Aufgusses, Salizylsäure, sowie chemische Abkömmlinge von ihr leicht in großen Mengen herstellen. Glücklicherweise für uns schmeckt einer dieser Abkömmlinge fast akzeptabel - Aspirin. Noch glücklicher macht uns die neuerliche Entdeckung, dass Aspirin zur Nachbehandlung von Herzinfarkten eingesetzt werden kann, um die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Infarktes zu reduzieren - was der Tradition völlig unbekannt war. Der Fall Aspirin zeigt klar die Grenzen von Tradition - wie werden neue Erkenntnisse mit eingearbeitet?

Traditionen lassen sich ändern - wenn auch nur widerwillig. Darin liegt ja nicht das Problem. Als Tradition bezeichnet man solche Verhaltensregeln und Erkenntnisse, die von Generation zu Generation durch Nachahmung oder Auswendiglernen weitergegeben werden. Von kritischem Hinterfragen ist nicht die Rede. Daher sind Traditionen meist bunt gefleckte Teppiche und obendrein nie ganz widerspruchsfrei.

Nehmen wir als Beispiel den Verzehr von Knoblauch, wo es zwei einander widersprechende Traditionen gibt; eine geht davon aus, dass der Verzehr von Knoblauch gesund sei. Zweifellos wahr, wie alle bestätigen können, die je Zeit in der Gesellschaft von Knoblauchessern verbracht haben. Knoblauchverweigerern wird es in der Gegenwart von Knoblauchessern übel, aber die Symptome können jederzeit behoben werden, indem man Ersteren Knoblauch zu essen gibt. Offensichtlich wird hier mit dem Wort „Gesundheit“ gespielt. Es gibt einen volkstümlichen Begriff, der mit dem medizinischen vermengt wird und daraus entsteht gelegentlich der mehr oder minder krampfhafte Versuch, das volkstümliche Wissen an das moderne anzupassen.

So dürfen wir fragen: Beugt Knoblauch Arterienverkalkung vor? Enthält er ein Antibiotikum? Wenn ja, wirft das die Frage nach der pharmazeutisch relevanten Menge auf, denn verschiedene Knoblauchsorten werden unterschiedliche Wirkstoffkonzentrationen besitzen, die zusätzlich von Erntezeitpunkt, Lagerung usw. abhängen werden. Knoblauch zu essen, ohne zu wissen, wie viel des betreffenden Wirkstoffes er enthält, wäre ein Vabanquespiel.

Letztendlich funktioniert Tradition auf einer ganz anderen Ebene als überprüfbare, vorläufige Wirksamkeitsnachweise. Bei Traditionen bleibt die Frage offen, wie neue Erkenntnisse aufgenommen werden; und die Bedeutung einer Tradition hängt davon ab, wie sie wahrgenommen und interpretiert wird. Vor allem fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit ihr (was damit zusammenhängt, dass Traditionen nicht schriftlicher Natur sind).

Als eine Art esoterisches Wissen führt sie praktisch zu bizarren Ergebnissen. Einige „Traditionen“ sind nämlich nicht viel mehr als vage Gerüchte, deren Macht in der geheimnisvollen Offenbarung liegt. Die unglücklichen Opfer dieses angeblichen Wissens sind die Lebewesen, denen man nachsagt, sie besäßen fast magische Kräfte, um z. B. Impotenz zu heilen. Darunter befinden sich gefährdete Arten wie Tiger, Nashorn und Ginseng.

Ganzheitlich

Von allen Schlagwörtern der „alternativen“ Heilkunde ist „ganzheitlich“ am schwersten eindeutig zu definieren. Uns wird gesagt, dass ganzheitliche Therapien „den ganzen Patienten“ behandeln. Aber was bedeutet das konkret? Insbesondere, was macht es für einen Unterschied, wenn nur die kranken Teile behandelt werden? Ergibt es einen Sinn, gesunde Teile zu behandeln, wenn ihr Funktionieren dadurch nicht verändert wird? Die Medizin versucht erst gar nicht, die Patienten ganzheitlich zu behandeln, und wie wir sehen werden, ist dies auch nicht immer notwendig.

Wo sich Ganzheitlichkeit einer empirischen Definition entzieht, weil sie sich auf Begriffe aus einer anderen Welt stützt (z. B. bei der anthroposophischen Medizin), wird man einzelne Behauptungen untersuchen müssen. Auch die Homöopathie behauptet ganzheitlich zu sein und führt ihren umfassenden Fragebogen vor. Wie viele dieser Fragen von klinischer Relevanz sind, sei dahingestellt. Allerdings ist ein Fragebogen, der rein subjektive Daten erfasst, alles Andere als ganzheitlich, denn es fehlt ganz an objektiven Messwerten. Aber auch wenn man einen Fragebogen entwerfen würde, der einen Anspruch auf Ganzheitlichkeit verdiente, würde dies nichts über die Wirksamkeit homöopathischer Mittel aussagen.

Von der dritten Variante der Ganzheitlichkeitsbehauptung, der bloßen Behauptung nämlich („ganzheitliche Massage“), wollen wir dezent schweigen.

Eine weitere Gruppe der ganzheitlichen Therapien bilden diejenigen, die ihre Ganzheitlichkeit damit begründen, sie würden die Ursache(n) einer Krankheit entfernen, d. h. nicht nur die Symptome behandeln oder die Folgen einer Krankheit oder eines Unfalls eingrenzen und abmildern.

Die Frage, um die es hier geht, ist die grundsätzliche Frage, ob eine Medizin die Ursachen einer Krankheit beseitigen muss, um eine effektive Medizin zu sein. Dort, wo sie die Ursachen einer Krankheit nicht behandeln kann, gibt die Medizin auch nichts Anderes vor, als die Symptome zu behandeln und sie zu beseitigen. Dass sie auch Krankheitsursachen behandeln kann und behandelt, ist nicht zu leugnen. Aber zu verlangen, dass sie dies in jedem Fall tun muss, ist nicht sinnvoll.

Um dies zu zeigen, nehmen wir als Beispiel die Insulin-abhängige Diabetes (Typ I). Bei dieser Krankheit stirbt ein bestimmter Zellentyp (Inselzellen) in der Bauchspeicheldrüse ab oder er hört auf, Insulin zu produzieren. Insulin wird als Signal benötigt, um Zellen (z. B. in den Muskeln) mitzuteilen, dass Zucker aus dem Blut entfernt werden muss. Ohne Insulin steigt der Zuckerspiegel soweit, dass die Nieren Zucker ausscheiden. Da dies nur geht, wenn gleichzeitig viel Wasser ausgeschieden wird, ist der Diabetiker ständig durstig, lässt aber auch permanent Wasser. Daher der altgriechische Name für die Krankheit: „Zuckerpumpe“, denn seit alters ist die Symptomatik - ermittelt anfangs durch Geschmacksprobe - bekannt.

Im frühen 20. Jahrhundert identifizierte man das Fehlen von Insulin als Ursache dieser Symptome und erkannte, dass das aus Rinder- und Schweinekadavern gewonnene Insulin gespritzt werden konnte, um sie zu lindern. Da die beiden Substanzen Nebenwirkungen haben, stellte die Einführung von Humaninsulin, das von genetisch veränderten Bakterien produziert wird, in den 1970er Jahren eine erhebliche Verbesserung dar. Künftige Möglichkeiten für eine noch verbesserte Behandlung könnten sein: a) eine intelligente Insulinpumpe, die so viel Insulin freigibt, wie benötigt wird; b) das Reaktivieren oder die Transplantation von Inselzellen; oder c) das Verhindern des Absterbens oder der Inaktivierung der Inselzellen überhaupt. Von diesen drei Optionen haben zwei überhaupt nichts mit der Entfernung der Krankheitsursache zu tun; und die dritte nur dann, wenn man bereits bekannte Ursachen für das Sterben oder die Inaktiverung der Inselzellen in Betracht zieht (gegen neuartige Erkrankungen müssten neue Mittel erst gefunden werden). Solche Behandlungsoptionen sind aber Zukunftsmusik, die heutige Behandlung wird wohl als - zur Zeit jedenfalls - bestmögliche angesehen werden müssen.

Zu den ganzheitlichen Methoden können auch jene dazu gezählt werden, die eher monoman anmuten. Allheilmittel - man findet sie in Form von Diäten und ganzen pseudomedizinischen „Schulen“ - sind Substanzen oder Prinzipien, die alles wieder heil machen sollen, oder sämtliche Krankheiten gar nicht entstehen lassen sollen. Das Gegenteil ist ein Pantoxikum, etwas, das alle nur denkbaren Krankheiten auslösen oder verursachen soll. Als Pantoxika werden oft technische Fortschritte beschuldigt, jedenfalls bis Gras darüber gewachsen ist. Bei beiden Varianten scheint der Ganzheitlichkeitsgedanke fast ins Gegenteil verkehrt worden zu sein. Hier steht nicht mehr das unfassbar Komplizierte, nur noch als ganzheitlich zu Bezeichnende im Mittelpunkt, sondern das Einfache, ja das weit über alle Maßen hinaus Vereinfachte. Wie wahrscheinlich es ist, dass alle Krankheiten eine einzige Ursache hätten, bzw. nur einer einzigen Behandlung bedürften, überlassen wir der Fantasie der Leserschaft.

Immer wieder werden wir Problemen begegnen, die wir nicht vollständig oder sofort lösen können. Aber das bedeutet nicht, dass wir gar nichts tun können. Ein Problem auch nur ansatzweise zu lösen, kann zu einer erheblichen Verbesserung führen. Wenn aber nur wenig getan werden kann, ist die Versuchung natürlich groß, zu einer Methode zu greifen, die verspricht, das Problem „ganz“ zu lösen.

Empirisch

Wenn wir eine Behandlungsmethode nicht danach beurteilen können, ob sie sanft, natürlich, traditionell oder ganzheitlich ist, wonach dann? Uns bleibt am Ende nur, Krankheit anhand von Daten (Puls, Blutdruck, Körpertemperatur, Anzahl von Zellen, Enzymaktivitäten) zu definieren, Grenzen zu ziehen, zwischen dem, was wir als „gesund“ betrachten, und dem, was als krank gelten soll, und zu beobachten, wie die verschiedenen Therapien von Krankheit hin zu Gesundheit führen, sie miteinander zu vergleichen und zu entscheiden, welche erfolgreicher sind als andere. Am Ende zählen nackte Fakten. Wer weiß, was für eine Rolle Glaube, Liebe, Stimmung oder Wille im Heilungsprozess spielen? Angesichts der Tatsache aber, dass manche Fragen, die in diesem Zusammenhang aufgeworfen werden, ans Metaphysische heranreichen („Warum müssen wir krank werden?“), müssen wir uns auf das Messbare, Beweisbare und Überprüfbare beschränken.

Zwischen Versuch und Irrtum

Der Hauptteil dieses Bandes wird sich mit der Untersuchung von Versprechungen von Heilern beschäftigen, mit ungewöhnlichen Behauptungen und Therapien, die gewöhnlich als „alternativ“ oder neuerdings auch als „komplementär“ bezeichnet werden. Die hier zu findenden Aufsätze umfassen ein breites Spektrum an Untersuchungsmethoden, die angewandt werden können, um die Behauptungen eines Heilers oder einer Schule zu bewerten.

Es ist also nicht nur die doppelblinde klinische Studie, mit der Behauptungen geprüft werden können; sie ist auch nicht ausreichend, um die Wirksamkeit einer Methode zu belegen. Damit eine Behandlung anerkannte medizinische Praxis wird, muss sie eine ganze Reihe von Untersuchungen bestehen; versagt sie auch nur ein einziges Mal, führt das meist dazu, dass die Behandlung verworfen wird. Einige alternative Methoden erheben zum Beispiel den Anspruch, dass ihre diagnostischen Verfahren zuverlässig sind. Sind sie es jedoch nicht, ermöglichen sie keine Aussage über das Vorhandensein - oder Verschwinden - einer Krankheit. Das ist das Thema der ersten beiden Artikel.

Weit verbreitet unter Krankenschwestern und -pflegern in den USA hat sich eine Methode namens Therapeutic Touch (TT, Deutsche würden die Methode wahrscheinlich als Handauflegen erkennen). Die Anhänger von TT behaupten u. a., dass sie Krankheiten heilen können, indem sie Störungen im „menschliches Energiefeld“ (ME) beseitigen. Klinische Studien haben nicht eindeutig klären können, ob die Methode wirkt, da wichtige methodische Fragen (Blindheit, zufällige Zuteilung der Patienten zu den Untersuchungsgruppen, Vergleichbarkeit der Gruppen, usw.) offen bleiben.

Die amerikanische Schülerin Emily Rosa ging völlig anders an die Sache heran. Die Therapeuten sollten im Versuch Emilys ME erspüren. Der Versuch zeigte, dass sie nicht einmal die Grundvoraussetzungen erfüllten: ihre Trefferquote, wo sich ein zufällig platziertes „menschliches Energiefeld“ befand, war nicht besser, als wenn sie geraten hätten. Emilys Versuch liefert solch klare Beweise gegen die Wirksamkeit von TT, dass ihr eine Reihe von Ehrungen zuteil wurde, wie die Veröffentlichung ihrer Arbeit im Journal of the American Medical Association und ein Eintrag im Guinness Buch der Rekorde.

Was Emilys Versuch bedeutet - und was nicht - erklärt uns Larry Sarner und er widerlegt damit zahlreiche Einwände, die gegen den Versuch erhoben wurden. Diese Analyse ist deswegen so wichtig, weil sie sich auf viele Beispiele anwenden lässt.

In den nächsten Aufsätzen werden die Leistungen einzelner Heiler untersucht. Irmgard Oepen richtet ihren Blick auf der Dachverband für Geistiges Heilen und einige Heiler, die zu bestimmten Zeiten mit dieser Organisation zusammengearbeitet haben. Die Organisation plädiert für eine Anerkennung von Geistigem Heilen und stellt einen ethischen Kodex für das Verhalten ihrer Mitglieder auf. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, in wie weit dieser Kodex ein praktisches Instrument für die Verbreitung der Vorteile und zur Verhinderung des Missbrauchs von Geistigem Heilen darstellt. Krista Federspiel berichtet über das Problem mit Geerd Hamer, der vor einigen Jahren in Österreich die Eltern eines krebskranken Mädchens überreden konnte, die Behandlung ihrer Tochter abbrechen zu lassen. Besonders die Rolle der Medien in diesem Drama wird kritisch durchleuchtet. Harry Edwards und Karen Stollznow stellen anschließend die Frage, ob die Therapeuten, die „alternative“ Methoden einsetzen, wirklich so viel menschliches Mitgefühl in die Behandlung mit einbringen, was angeblich für die breite Akzeptanz dieser Methoden verantwortlich sein soll. Die Schulmedizin wird von den „Alternativen“ oft als unmenschlich beschrieben, es fehle ihr an Mitgefühl für die Patienten oder sie sei mechanisch. Karen besuchte einige „Alternative“ und hat herausgefunden, ob alternative Therapeuten einfühlsamer sind.

Dann kommen zwei Schulen von Pseudomedizin und eine spezifische pseudomedizinische Behandlung auf den Prüfstand. Anthroposophische Medizin wird kritisch beleuchtet von Barbara Burkhard. Rudolf Steiner entwickelte im frühen 20. Jahrhundert die Anthroposophische Medizin als Teil einer alles umfassenden Philosophie und Lebenspraxis. Steiners fremd klingende Vorstellungen über Physiologie und Krankheit werden kurz beschrieben. Anschließend untersucht Burkhard den Einsatz von Mistelextrakten in der Krebsbehandlung - eine der bekanntesten anthroposophischen Behandlungsmethoden überhaupt. Die vor 200 Jahren von Samuel Hahnemann formulierte Homöopathie ist Thema des nächsten Beitrags. Jürgen Windeler und Rainer Wolf stellen detailliert die Vorstellungen von Hahnemann und anderen Homöopathen dar. Ihre umfassende Analyse zahlreicher Behauptungen verrät mehr über die Homöopathie, als ihre einfache Regel similia similibus curantur nahe legt. Lynn McCutcheon erzählt schließlich die Geschichte vom Haiknorpel als einem Mittel zur Behandlung von Krebs. Wie sich herausstellen wird, steht hinter dem Gedanken, Haiknorpel gegen Krebs einzusetzen, eine gewisse Logik. McCutcheon zeigt aber, dass dies alleine nicht ausreicht, die Haiknorpeltherapie als wirksam zu rechtfertigen.

Zwei pseudowissenschaftliche Theorien über die Entstehung von Krankheiten folgen. Peter Kröling stellt die verbreitete Meinung in Frage, dass Elektrosmog allerlei Krankheiten hervorruft. Wie er klarstellt, besitzt die elektromagnetische Strahlung eine Reihe von Eigenschaften, die von der Wellenlänge der Strahlen abhängen. Dies zu verstehen, heißt auch zu verstehen, welche Auswirkungen elektromagnetische Strahlung auf die Gesundheit haben kann. Um zu einer Aussage über die Gesundheitsgefährdung durch Elektrosmog zu kommen, untersucht Kröling, ob mit der Zunahme an „Elektrosmog“ im Zuge der Elektrifizierung eine Zunahme an bestimmten Krankheiten korreliert. Ähnlich argumentiert Don Wilson in Sachen Amalgam als Zahnfüllung. Ist Amalgam wirklich die Bedrohung, die behauptet wird? Steckt es wirklich hinter einer ganzen Reihe alltäglicher Beschwerden, muss es durch Materialien ersetzt werden, die im Gegensatz zu Amalgam nicht klinisch erprobt oder gar mangelhaft sind?

Hintergründe

Im Abschnitt „Hintergründe“ wollen wir einige allgemein gehaltene Artikel veröffentlichen - auch Artikel, die nicht unmittelbar mit dem Schwerpunktthema zu tun haben, die aber trotzdem den einen oder anderen Punkt erhellen können. Für diesen Band haben wir Artikel gewählt, die in einem eindeutig medizinischen Zusammenhang stehen. Wissenschaftliche Versuche sollten möglichst vorurteilsfrei durchgeführt werden. Der Einfluss von Vorurteilen ist manchmal jedoch kaum wahrnehmbar - was wiederum Vorurteile verstärken kann. Um diesen Einfluss einzuschränken oder gar auszuschließen, bemühen sich Methodiker, fehlerhafte Versuchsbedingungen zu identifizieren, was Barry Beyerstein in seinem Beitrag beschreibt. Stephen Basser untersucht den Mythos, dass Naturprodukte sicher und wirksam sind und die Versuche der australischen Regierung, die alternative Gesundheitsszene zu regulieren. Er beobachtet, dass die Alternativen der Frage nach Wirksamkeit ausweichen und stattdessen das Thema einfach wechseln. Dass ihre Therapeuten eine mehrjährige Ausbildung erhalten, soll die Aufmerksamkeit von der Frage ablenken, ob die dort gelehrten Inhalte stimmig sind. Steven Novella befasst sich mit Verschwörungstheorien, insbesondere mit der Vorstellung, dass ein hochwirksames Medikament gegen Krebs von den Mächtigen zurückgehalten werde. Da eine solche Verschwörung eine große Anzahl von Menschen umfassen müsste, die in verschiedenen Organisationen tätig sind und teilweise gegenläufige Interessen verfolgen, kommt er zu dem Fazit, dass es sich wohl eher um eine Legende als um eine Enthüllungsstory handelt. Barbara Burkhard hat den Artikel um einen Zusatz über die Situation in Deutschland ergänzt.

Irr-Garten

Eine Beziehung von James Van Praagh zur Medizin herzustellen, mag vielleicht gewagt sein, auch wenn er Diagnosen erstellt und die Todesursachen Ihrer Lieben aus dem Jenseits ermitteln kann. Michael Shermer, der genau so gut Gedanken lesen kann wie Van Praagh, sagt uns, wie das geht - ein paar kluge Fragen würden da fast reichen, wenn ihm manchmal auch der Zufall gütig gestimmt ist. Etwas heiterer ist es bei Nick Kim, der einen Bericht von seinem außerirdischen Freund wiedergibt, der die Traditionelle Griechische Medizin untersucht hat und zwar insbesondere die platonische Vorstellung, dass fehlender Geschlechtsverkehr die Wanderung der Gebärmutter durch den Körper verursacht, was die Frauenkrankheit Hysterie auslösen soll. In Dumbth beweist Randy Cassingham, dass der Einfallsreichtum der Menschen fast grenzenlos ist, auch wenn sie sich auf Sachen beschränken, die einfach dumm laufen.

Beinahe skeptisch aber nicht ganz

Schließlich sind wir sicher, dass wir nicht alle medizinischen Probleme gelöst oder alle Fragen zufriedenstellend beantwortet haben. Das Thema ist kompliziert, umstritten, die Kontrahenten gehen manchmal aufeinander los, als sei Krieg, als müssten sie einander vernichten. Einfache wie auch komplizierte Behauptungen entpuppen sich allzu oft als Fata Morgana. Gibt es nicht einen Faden der Ariadne? An sich nicht. Auch wenn wir Menschen gerne nach Mustern suchen und sie auch finden, bleibt der beste Weg zur Erkenntnis die Infragestellung - und nicht die Verallgemeinerung. Es wäre alles viel einfacher, wenn wir pseudomedizinische Methoden dadurch identifizieren könnten, dass sie irgendeiner einfachen Regel widersprechen oder ein verräterisches Merkmal besäßen, und wir uns nicht die Mühe nicht machen müssten, sie einzeln zu untersuchen.

Gesunder Menschenverstand sagt uns z. B., dass Anzeigen in folgenden Medien im Allgemeinen falsche Aussagen beinhalten:

Wenn man die Anzeigen nun auf ihren Inhalt hin überprüft, könnte man zu dem Schluss kommen, dass im Allgemeinen Behauptungen über die erfolgreiche Behandlung folgender Krankheiten irreführend sind:

Aber dann hätten Sie drei Gebiete übersehen, auf denen es in den letzten Jahren echte Durchbrüche gegeben hat. Darin liegt der Wert des Skeptizismus: er stellt immer wieder überkommene Vorstellungen infrage. Den Weizen von der Spreu zu trennen, heißt nicht nur das Unzuverlässige, das Ineffektive zu erkennen, sondern auch den Fortschritt.

Michael Shermer
Lee Traynor

1N.N. (1999): Naturheilverfahren à la carte, TK aktuell, Nr. 3/1999, S. 22-23. Zurück zum Text.

2Uns ist bekannt, dass der Blutegel eine Anzahl hochwertiger Arzneimittel liefert, die in der Behandlung von Blutgerinnseln eingesetzt werden, die unbehandelt zu Schlaganfällen u.ä. führen können. Aber die Krankenkasse bietet hier ausdrücklich Aderlass an und keine medizinisch notwendige Behandlung. Zurück zum Text.

3Shermer, M. (1998): Der Mythos vom Verlorenen Paradies. In: Endzeittaumel, Skeptisches Jahrbuch II, hrsg. von M. Shermer, B. Maidhof-Christig und L. Traynor, Aschaffenburg. Zurück zum Text.

Danke für Ihr Interesse!