Skeptiker 96-1 Cover

Skeptiker 96-1

40 Seiten. Counter page views.

Herausgegeben von der GWUP Logo

Editorial: Geschichte und Geschichten

Das Wort "Geschichte" bezeichnet einerseits das real in der Vergangenheit Geschehene. Ins Blickfeld kann dies aber immer nur unter bestimmten Maßstäben rücken, die durch den Horizont oder die historische Situation des Historikers gegeben sind. Deshalb definiert andererseits Johan Huizinga Geschichte als "die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegt".

Dabei kann es auch zu Geschichtsklitterungen und -verfälschungen kommen. Aufgabe des Historikers ist es zweifelsohne, die Vergangenheit - die sich selbst nicht mehr wehren kann - vor solchen Manipulationen zu schützen. Denn die Faszination für vergangene Zeiten hat nicht nur die Archäologie und andere Geschichtswissenschaften hervorgebracht, sondern auch einige der verschrobensten Pseudowissenschaften, die wir kennen. Einige davon behandeln wir in diesem Skeptiker-Heft.

Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein. Sie ist also nicht das "Erledigte", sondern kann in vielen Fällen für das Handeln in der Gegenwart von hoher Bedeutung sein. Nicht selten sind Geschichtsmanipulationen auch so motiviert: als politisch gemeinte Handlungsleitlinien für die Gegenwart.

Die GWUP bekam das vor einiger Zeit zu spüren. Ein gewisser Karlheinz B. aus Oberbayern zog als (sich selbst einladender) Referent von Volkshochschule zu Volkshochschule und verbreitete unter unverfänglich klingenden Titeln wie "Die Cheops-Pyramide" oder "Stonehenge" pseudowissenschaftliche Theorien germanophilen Inhalts, worüber er auch regelmäßig in Veröffentlichungen des vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Grabert-Verlags publizierte. Daneben vertrieb er Broschüren, in denen der Holocaust angezweifelt, die Relativitätstheorie des "Juden Einstein" als Schwindel bezeichnet und die "Deutsche Physik" der NS-Zeit umjubelt wurde.

Als ein Mitglied der GWUP einige Volkshochschulen auf diese Hintergründe aufmerksam machte (und B. daraufhin ausgeladen wurde), verging nur eine kurze Zeit, bis ein unter deutschen Rechtsradikalen verbreiteter Informationsdienst, der von Litauen aus operiert, die GWUP ins Zielfeuer nahm: Den Adressaten wurde versichert, daß die Aussagen der GWUP "zu irgendwelchen wissenschaftlichen Fragen völlig wertlos" seien. "WIR BITTEN UNSERE LESER UM MITARBEIT zu folgenden Fragen: Wer kennt die erwähnten (GWUP-Mitglieder) Herrn W. und K.? Wer kennt die Vorsitzende der vorgenannten Gesellschaft ...? Uns interessiert deren Mitgliedschaft ... in politischen Geheimbünden".

Historisch zeigt sich, wie diverse ariosophische und neogermanistische Behauptungen einen Vorlauf für die NS-Rassenideologie und deren Umsetzung bildeten. Noch heute werden die von Heinrich Himmlers "Ahnenerbe" durchgeführten pseudowissenschaftlichen Untersuchungen über die Externsteine als "germanischer Kraftplatz" in weiten Teilen der Esoterikszene unkritisch für bare Münze genommen. Aus der Geschichte lernen bedeutet hier, solche Fehlvorstellungen rechtzeitig und entschieden zu kritisieren, wie auch Tim Trachet in seinem Beitrag "Vorurteile über die Vergangenheit" angesichts des Leugnens der Verbrechen des Nationalsozialismus fordert.

Eine andere historisch orientierte und heute vorwiegend im deutschen Sprachraum verbreitete Parawissenschaft ist die "Prä-Astronautik", auch "Dänikenismus" [1] genannt. Sie behauptet, Raumfahrer ferner Planeten hätten in grauer Vorzeit durch genetische Manipulationen den Menschen erschaffen und seitdem wiederholt in den Verlauf der Menschheitsgeschichte eingegriffen. Dies habe sich sowohl in alten Mythen als auch in geheimnisvollen Artefakten, z.B. Megalithbauten und Felszeichnungen, niedergeschlagen. In diesem Skeptiker nehmen wir zwei derartige konkrete Behauptungen kritisch unter die Lupe.

Nach ursprünglich weltweit großen Verkaufserfolgen der Bücher des Chef-Apologeten Erich von Däniken Anfang der siebziger Jahre hat sich die "Prä-Astronautik" nur im deutschen Sprachraum mit der "Ancient Astronaut Society" (8000 Mitglieder) als größere organisierte Glaubensgemeinschaft etablieren können. Ins Englische wurde seit zwei Jahrzehnten - bis vor kurzem - kein einziges Däniken-Buch mehr übersetzt.

"Mythen sind wortwörtlich interpretierbare Reportagen" lautet der zentrale Glaubenssatz der Prä-Astronautik. Darin ähnelt sie dem Kreationismus, mit dem sie auch sonst sehr viele Gemeinsamkeiten hat. Weil es bis heute keine stichhaltigen Belege für eine Anwesenheit Außerirdischer gibt, ist die Prä-Astronautik ganz und gar eine Sache der (Um)Interpretation historischer Tatsachen und mythologischer Erzählungen, meist unter bewußter Ignorierung längst vorliegender Erkenntnisse der Archäologie sowie der Mythen- und Sagenforschung.

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sie sich als eine Art Kosmologie mit allumfassendem Erklärungsanspruch, die sich gegen Falsifizierungen immunisiert und ohne Einschränkung das von Georg Simmel geprägte Prädikat "religoid" verdient. Umsturzartige Bekehrungserlebnisse im Jugendalter via Buchlektüre stehen in aller Regel am Beginn prä-astronautischer Karrieren, begründet im gutgläubigen Vertrauen auf Erfolgsautoren als Autoritäten. Religion soll auf Wissenschaft zurückgeführt werden ("Jesus als Astronaut"), dabei wird - soziologisch gesehen - umgekehrt die Wissenschaft tatsächlich zu einer Religion abgewandelt.

Unabhängig davon, ob Außerirdische jemals die Erde besucht haben (was ja nicht völlig ausgeschlossen werden kann), existiert die Prä-Astronautik in der sozialen Realität als paranormales Überzeugungssystem. Ihre Anhänger übersehen, daß die neuzeitlich-technische Interpretation alter Mythen selbst mythologischen Charakter hat. Es ist eine Neuauflage alten eschatologischen Denkens aus jüdisch-christlicher Tradition, wie Ashworth [1] in einer der wenigen soziologischen Analysen der Prä-Astronautik aufgezeigt hat. Geschichte und Geschichten sollte man aber auseinanderhalten.

Edgar Wunder

1. Ashworth, S.: Flying Saucers, Spoon-Bending and Atlantis: A Structural Analysis of New Mythologies. Sociological Review 28 (2), 353-376, 1980.

Danke für Ihr Interesse!


Skeptiker 96-1 Inhaltsverzeichnis
Editorial: Geschichte und GeschichtenEdgar Wunder
Vorurteile über die VergangenheitTim Trachet
Das Rätsel der "Partherbatterie"Gerhard Eggert
"Sumerische Sternkarte" oder Ausgeburt der Fantasie?Joachim Marzahn
Psychotherapeutengesetz - eine Farce?
Lieber tot als dick
Okkultismus und Avantgarde
Berliner "Friedensuniversität"
Betrügerische Fernkurse in Parapsychologie?
Die "morphischen Felder" des Rupert Sheldrake
Kettenbriefe gesucht
Esoterischer Rassismus
Münchener Wünschelrutentests erneut im Zwielicht
Panorama
Leserbriefe
Buchbesprechungen